Der Heros von Phaistos



Leseprobe


Komm her, Moira, und sieh dir das an! Aison zeigt nach Westen. Es hat zwar länger gedauert, als ich dachte, aber jetzt liegt es vor uns. Moira beschattet sich die Augen und starrt auf die grauen Schlieren eines Landstreifens, der am Horizont aufgetaucht ist. Ist das Karpho? - Karpho!, ruft Aison laut und reckt die Faust in die Luft, als trage sein Schwert schon den ersten abgeschlagenen Kopf. Die Ruderer nehmen den Ruf auf und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Der Steuermann lässt sie gewähren, fixiert das Steuer und stellt sich an Aisons Seite. Sein lederhartes, faltiges Gesicht verzieht sich kaum. Wirst du auf die anderen Schiffe warten, Fürst? Warum sollte ich? Du hast mir selbst erzählt, sie sind fast unbefestigt. Was soll ich warten und die Beute teilen? Weiß ich denn, ob mein Bruder sich überhaupt bis ins lybische Meer wagt? Er wirft den Kopf auf und Moira weiß, dass jedes weitere Wort zuviel ist. Auch Laban weiß es und schweigt. Aison greift in Moiras Haar, das sie stets offen tragen muss, auch wenn es ihr der Wind ums Gesicht peitscht. Er zieht sie zu sich heran. Sie horten wunderbaren Schmuck auf diesen Inseln, Täubchen. Ihre Perlen werden bald deinen Schwanenhals zieren und du wirst goldbereift umherstolzieren als wärest du die Keftiupriesterin persönlich.
Plötzlich gibt der Syrer einen Schreckensruf von sich. Herr! Das ist nicht Karpho! Was ist es dann? Es ist Kreta! Ich kenne die Bergzüge genau. Bei dieser Insel täusche ich mich nicht. In die atemlose Stille hinein klingt Aisons Stimme seltsam leise, fast andächtig, als spreche er mit seinen Göttern: Kreta, die Windgeborene! Königin der Inseln! Die Schreckensmeldung breitet sich unter den Ruderern aus. Wenn wir sofort wenden und gegen den Wind rudern was die Blätter hergeben, Fürst, dann sind wir außer Sichtweite, bevor sie uns entdecken. Laban eilt zum Steuerruder. Halt! Aisons Stimme ist groß wie die seines Vaters. Die Insel ist groß. Sie können nicht überall sein. Weißt du noch die Schätze, die mein Bruder mitbrachte? Er protzt seither mit seinem Lapislazuligehänge und macht sich lustig über mich. Laban, der zurück gekommen ist, schüttelt den Kopf: er war mit einer Flotte unterwegs und nicht Kreta ist er angefahren, sondern Thera. Außerdem ist es zwei Jahre her. Sie sind stärker geworden, heißt es. Moira spürt an der Art, wie sich Aison aufrichtet, dass er zornig wird. Laban redet immer weiter, bis Aison dazwischenfährt: willst du mir sagen, dass die Götter mich verlassen haben? Bin ich nicht der Liebling des Ares und trägt er mich nicht auf Händen in jeden Kampf und unverletzt aus jedem Kampf heraus? Laban sieht, in welche Gefahr er sich gebracht hat. Er stottert irgendetwas und hebt demütig die Arme. Aison spricht jetzt so laut, dass ihn alle hören. Hat nicht Apollon selbst, uns den Wind geschickt, der uns in die lybischen Gewässer führte? Den ersten Keftiu, den ich aufspieße, werde ich Apollon weihen. Wir werden sie dort angreifen, wo sie es nicht erwarten. Und wir werden mit reicher Beute und vielen ihrer stolzen Weiber heimkehren. Der Jubel ist verhalten. Bogen, Schilde und Schwerter werden bereitgelegt. Die Männer versuchen ihre Angst zu verbergen. Auch Moira hat Angst. Sie wagt einen letzten Versuch Aison umzustimmen: Wir haben schon so viel Beute, Herr. Sie zeigt auf den Haufen Bronzebarren, der in der Bootsmitte angezurrt ist und die Ledersäcke mit kykladischen Edelsteinen. Und zuhause wartet dein Volk und dein Sohn. Sie sind schon lange ohne Schutz. Wenn ihn etwas dazu bringen kann, den Bug auf die Heimat zu richten, dann die Sorge um seine ständig bedrohte Stellung als oberster Kriegsherr. Und Leander, sein Erstgeborener, auch wenn er mit ihr, einer Sklavin gezeugt war, soll ihm auf den Schlangenthron folgen und braucht gegen die intriganten Höflinge, die ständig einen Bruder gegen den anderen ausspielen, den Schutz des Vaters. Aber Aison antwortet nicht. Er stellt sich weit vorne an den Bug, gegenüber der Sonne, die den Zenit schon überschritten hat und hebt betend die Arme. Moira befestigt Krummschwert und Dolch an ihrem Gürtel und zieht die Lederkappe auf. Aison gleißt in der Sonne mit seinem metallenen Wams als wäre er selbst einer der Göttlichen. Als er sich umdreht, ist Fieber in seinen Augen. Ares hat mir ein Stierweib versprochen, keucht er als läge sie schon unter ihm. Es wird mir Heldensöhne gebären. Moira gibt es einen Stich ins Herz. Sie wendet sich ab.
Wir halten diesen Abstand zur Küste und nähern uns erst im Schutz der Dämmerung. Laban nickt. Er ist froh, ohne Strafe davon gekommen zu sein. Der Süd weht beständig. Die Ruderer können ihre Kräfte sparen.
Als das Kydonenschiff auftaucht, sehen es Aison und Laban gleichzeitig. Es nähert sich sehr schnell von Westen. Sollen wir ausweichen, Fürst? Nein, dann erwischen sie unsere Breitseite. Wir halten den Kurs. Wir sägen ihre Ruder ab und werfen die Haken. Keiner wagt es mehr zu mahnen. Das Schiff nähert sich im Gegenlicht. Bis kurz vor dem Kampf wird keiner der Krieger wissen, mit wie vielen Feinden sie es auf dem gegnerischen Schiff zu tun haben. Sie flehen zu Ares, Apollon und Artemis, versprechen reiche Opfer. Auch das Kydonenschiff nähert sich, ohne den Kurs zu ändern. Es hat Segel aufgezogen, die es aber eher bremsen, da der Wind beständig in der Gegenrichtung weht. Was haben sie vor? Laban reibt sich das Kinn und zuckt die Achseln. Jetzt wäre der Zeitpunkt, friedliche Absichten zu zeigen und die Ruder einzuziehen. Aber Aison befiehlt, das Tempo zu steigern. Auch die Kydonden beschleunigen. In höchster Fahrt fliegen die beiden Schiffe aufeinander zu. Der bronzeverkleidete Bug leuchtet wie eine Fackel. Schon tönt das rüppapai, rüppapai der Rojer herüber. Rein mit den Rudern! Greift die Haken! Brüllt Aison. In diesem Moment weicht der Gegner in einem gewagten Steuermanöver aus und verlangsamt gleichzeitig die Fahrt. Nun liegt er fast gleichauf, aber zu weit entfernt, um die Haken sicher platzieren zu können. Es ist kein sehr großes Schiff, nicht mehr als zwanzig Rojer im Unterdeck und oben auf den Planken stehen noch einmal so viele Bewaffnete. An die Ruder! Wir müssen näher ran! Aber die Thessalier sind schnelle Manöver nicht gewöhnt. Ein Gemenge entsteht, das wertvolle Zeit kostet. Inzwischen hat das Kydonenschiff noch einmal den Kurs geändert und beigedreht. Die Ruder klatschen ins Wasser während gleichzeitig die Segel den Südwind einfangen und sich krachend aufblähen. Rojerschreie peitschen die Ruder in schnell sich steigerndem Takt ins Wasser und der Metallbug saust auf die ungeschützte Breitseite des schlingernden Thessalierschiffes los, wie ein wütend gewordener Stier. Kämpft im Namen der Götter!, schreit Aison mit aller Kraft. Er klammert sich in Erwartung des Aufpralls an den Mast. Sieg für die Göttin!, ruft es von drüben. Eine Frau steht vorne am Bug mit gezogenem Schwert. Nur Leder scheint sie zum Schutz zu tragen und ihre rote Schärpe hebt sie aus allen anderen Bewaffneten heraus. Das ist mein Weib! Hört Moira Aison knurren. Da wirbelt sie der Aufprall nach vorne, sie wird gegen die Reling geschleudert und ist einen Moment wie benommen. Als sie aufschaut, sieht sie die Frau mit der roten Schärpe gleich einem Raubvogel herüberfliegen, direkt auf Aison zu. Sie landet kurz vor ihm und schlägt ihm mit einer Bewegung, die noch aus dem Schwung des Fluges kommt, das Schwert aus der Hand. Und während er noch verdutzt dasteht, hebt sie ihre Waffe zum tödlichen Hieb. Nein! Schreit Moira und katapultiert sich hoch, wird aber sofort wieder umgerissen von den Kydonenkriegern, die das Deck stürmen. Ein Schlag trifft sie am Kopf und sie verliert endgültig die Besinnung.

Moira kommt wieder zu sich, als sich das Schiff zur Seite neigt und sie über die Planken rollt. Ein Schwall Wasser erfasst sie dort, wo die Schiffswand aufgerissen ist. Sie wird ins Meer geschwemmt, kurz darauf ist das Schiff vollgelaufen und sinkt. Eine Planke bekommt Moira zu fassen. Um sie herum treiben viele Tote. Auch Lebende, die verzweifelt herumpaddeln. Außer Moira, die es als Kind von ihrer Mutter gelernt hat, kann wahrscheinlich keiner der Schiffsbesatzung schwimmen. Das siegreiche Schiff ist offensichtlich unbeschädigt. Bogenschützen vollenden nun, was die Angreifer auf Deck begonnen hatten. Sie töten alles, was sich noch im Wasser regt. Moiras Planke wirft genug Schatten um sie zu schützen. Schließlich erscheint die Kriegsherrin auf dem Oberdeck und ruft etwas, worauf sich ein vielstimmiger Jubel erhebt. Er bricht abrupt ab, als Aison gefesselt vor sie hingeführt wird. Moira erkennt ihn sofort an den hellen, langen Locken und seiner mächtigen Statur. Er lebt! Auch scheint er unverletzt. Moira beginnt zu hoffen, dass auch sie überleben könnte. Sind seine Götter nicht auch ihre Götter? Oder haben sie ihn verlassen, sodass er in Gefangenschaft geriet? Die Rotgewandete wirft ihm ein paar Worte hin, dann zieht sie das Schwert. Aison schaut herüber auf die Wellen, die sein Schiff verschlungen haben und sieht die Leichen in ihrem Blute treiben. Wieder herrscht sie ihn an, das Schwert hat sie erhoben. Aison sinkt in den Schultern zusammen und schließlich beugt er das Knie. Der König von Iolkos kniet vor der Siegerin, gebunden und mit gebeugtem Haupt! Ja, sie haben ihn verlassen, seine Götter!

Tagelang treibt sie auf dem Meer. Halb verdurstet und so klamm, dass sie kaum mehr die Arme von der Planke lösen kann, findet sie Kermon und zieht sie in sein Boot. Er gibt ihr Wasser und Brot in kleinen Stücken, dann deckt er sie zu und lässt sie schlafen.

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